Die Eigentumsfrage ist die Grundfrage der Bewegung - Keine weitere Privatisierung!

  1. Die Neue Zeit
    Die Neue Zeit
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    Berlin (Weltexpress) - Rede von Oskar Lafontaine auf dem Programmkonvent der Partei Die Linke in Hannover am 7. November 2010. In dieser, seiner Rede formulierte Oskar Lafontaine, Vorsitzender der Partei Die Linke bis Mai 2010 und Fraktionsvorsitzender der Partei im Saarland, Eckpunkte des Profils der Linkspartei und setzte sich dabei auch kritisch mit den Gegnern des Entwurfs auseinander. Weltexpress dokumentiert die Rede im Wortlaut (nach dem Audiomitschnitt auf www.youtube.com).

    Liebe Genossinnen und Genossen, liebe Freundinnen und Freunde,

    ich bedanke mich für die Einladung, heute auf diesem Kongreß sprechen zu dürfen. Und ich bedanke mich bei all denjenigen, die bisher das Programm kritisiert haben. Jawohl, ihr hört richtig: Ich bedanke mich bei allen, die das Programm kritisiert haben. Das wollten wir ja, wir wollten eine lebendige Debatte. Und Kritik macht uns wach, sie fordert uns heraus, immer wieder die eigenen Gedanken zu überprüfen. Natürlich ist uns jede Auseinandersetzung mit dem Programm willkommen, auch die Auseinandersetzung von Politikerinnen und Politikern anderer Parteien. Aber wenn ich in der Presse lese, daß beispielsweise Herr [Sigmar] Gabriel uns Ratschläge gibt, was wir zu tun und zu lassen haben, dann müssen wir doch sagen: Beschäftigen Sie sich lieber mit Ihrer eigenen Partei, sehr geehrter Herr Gabriel!

    Und wenn ich dann lese, daß ein gewisser [Thomas] de Maizière, Bundesinnenminister, erzählt, er würde jetzt erst mal abwarten und dann das Programm prüfen und dann entscheiden, ob er uns weiter beobachten läßt – dann muß man ihm sagen: Studieren Sie doch mal das Grundgesetz und lernen Sie daraus, wer demokratische Parteien mit dem Verfassungsschutz beobachtet, der hat überhaupt keine Einstellung zur demokratischen Ordnung! Unser Grundsatzprogramm bestimmt unsere Verortung im Parteiensystem der Bundesrepublik. Und wenn wir das so sagen, dann müssen wir ein paar Selbstverständlichkeiten wieder ansprechen. Wenn wir uns als fünfte Partei im Parteiensystem verorten, dann müssen wir davon überzeugt sein: Wenn es Die Linke jetzt noch nicht gäbe, dann müßte man sie erfinden, weil wir bisher nur neoliberale Parteien hatten – und wir brauchen eine Partei, die diesen Konzepten wirklich etwas entgegenstellt. Wir brauchen keine zweite CDU, da wird jeder zustimmen. Wir brauchen auch keine zweite FDP, auch da wird jeder zustimmen. Wir brauchen aber auch keine zweite SPD. Das muß auch in aller Klarheit gesagt werden.

    Verarmungspolitik kontern

    Deshalb will ich einige Argumente der Kritiker hier aufgreifen. Ich habe gelesen, unser Hauptgegner sei nicht die SPD. Das ist ja richtig. Es war immer ein Mißverständnis, das so zu interpretieren. Aber es muß klar sein, unser Hauptgegner war die Gesetzgebung, die sich »Hartz IV« nennt. Und die werden wir weiter bekämpfen. Wir werden da nicht nachlassen. Unser Hauptgegner ist eine Rentengesetzgebung, die millionenfache Armutsrenten programmiert, und wir werden da nicht nachlassen, wir werden das kritisieren, egal welche Partei für diese Gesetze Verantwortung trägt. Unser Hauptgegner ist auch die Zerstörung des Gesundheitssystems, die sogenannten Zusatzbeiträge, die ja nichts anderes sind als der Einstieg in die Kopfpauschale. Auch das muß man den Sozialdemokraten beispielsweise vorhalten, daß sie das mitgemacht haben. Natürlich müssen wir auch sagen, die Sozialdemokratie ist ein potentieller Bündnispartner. Ich sage es in aller Klarheit. Es wird sich irgendwann mal an programmatischen Fragen klären, nur auch das an die Adresse derjenigen, die sagen, der Hauptgegner ist nicht die SPD. Wir müssen doch sehen, Hauptkonkurrenten im Parteiensystem für die Linke sind SPD und Grüne, und deshalb müssen wir uns mit ihren Programmen und mit ihrer Politik auseinandersetzen, liebe Freundinnen und Freunde. Das ist eine pure Selbstverständlichkeit.

    Grüne Mogelpackung

    Und selbstverständlich gönnen wir als faire Sportsleute den Grünen jetzt die guten Umfrageergebnisse. Aber das entbindet uns nicht von der Verpflichtung, uns mit dieser Partei auseinanderzusetzen und zu sagen: Krieg ist die schlimmste Form der Umweltzerstörung. Eine Umweltpartei kann nicht Kriege befürworten. Und wir müssen der Partei der Grünen sagen, dieses Konzept der Green Economy oder New Green Deal, oder was sie alles erzählen – ist ja schon interessant, daß man Anglizismen bemühen muß –, das ist ein Placebo, das ist eine Mogelpackung. Wer die Eigentumsfrage nicht stellt, wird die ökologische Frage nicht lösen können. Das ist unsere Sonderstellung hier als Partei Die Linke. Und wir werden ja mittlerweile, liebe Freundinnen und Freunde, aus der Wissenschaft unterstützt. Der letzte Nobelpreis [für Wirtschaft 2009] , und ich empfehle allen, daran anzuknüpfen, ist an eine Wissenschaftlerin verliehen worden, Elinor Ostrom, die erforscht hat, daß Gemeinschaftseigentum ökologischer verwaltet wird als Privateigentum. Ja, selbst wenn das in der klassischen Wissenschaft erforscht wird, da sind wir, Die Linke, doch gehalten, darauf hinzuweisen: Gemeinschaftseigentum ist viel, viel eher in der Lage, zu umweltgerechtem Verhalten zu führen als Privateigentum. Und wir schieben noch eine Begründung nach: Nur mit Gemeinschaftseigentum lernt man verantwortungsvolles Handeln. Das ist der entscheidende Punkt. Auch verantwortungsvolles Handeln gegenüber der Natur. Und noch etwas an die Adresse der Grünen. Wir können nicht zulassen, daß die ökologische Frage von der sozialen Frage abgekoppelt wird. Die Grünen sind mittlerweile die Partei der Besserverdienenden. Eine Ökologiepolitik, die dazu führt, daß nur die Wohlhabenden sich Autos und Fernreisen leisten können – eine solche Ökologiepolitik muß Die Linke in Frage stellen!

    Lobbyismus zurückdrängen

    Wenn ich schon bei der Auseinandersetzung mit den anderen Parteien bin, dann bin ich bei dem ersten Alleinstellungsmerkmal. Die anderen Parteien haben wortreich beklagt, ich meine jetzt die Oppositionsparteien im Deutschen Bundestag, daß diese Regierung nur noch Lobbyisten bedient. Daß sich die Banken ihre Gesetze bestellen, daß die Energiewirtschaft und daß die Hotelbranche ihre Gesetze bestellen. Das ist ja alles richtig analysiert und gesehen, aber das kann doch kein folgenloses Klagen sein. Dann muß man bitteschön auch sagen: Wir sind gegen Spenden von Unternehmen und Privatpersonen, wie das in Frankreich geregelt ist. Bei Privatpersonen Höchstgrenzen und bei Unternehmen überhaupt keine Spenden, sonst kriegen wir den Lobbyismus nicht aus dem parlamentarischen System verbannt. Das ist übrigens eine Bitte an die Redaktionskommission [des Programms], daß man dies ergänzt, also auch die Privatspenden mit aufnimmt in die Formulierung. Das fehlt bis jetzt. Um nur eines hier zu sagen, liebe Freundinnen und Freunde, diejenigen, die dieses Programm erarbeitet haben, sind wirklich nicht so naiv zu glauben, daran könnte nichts geändert werden. Wir laden gerade zu Änderungen ein. Wir waren auch nicht in allen Punkten einig, und jeder hat an dem Punkt oder dem Punkt irgend etwas zu kritisieren, aber wir brauchen eine gemeinsame Grundlage. Und nach der Diskussion innerhalb der Partei, bin ich ganz sicher, werden wir auch eine gemeinsame Grundlage für die nächsten Jahre finden.

    Fehlkonzept Schuldenbremse

    Die zweite Diskussion, die geführt worden ist, ist die Frage der Regierungsbeteiligung und die Frage, ob man denn Haltelinien formulieren dürfe. Man kann selbstverständlich darüber diskutieren, ob die im Grundsatzprogramm stehen müssen. Doch eines muß ich sagen, es gibt keine Partei, die keine Haltelinien hat. Das will ich auch mal an die Adresse der anderen Parteien sagen. Es gibt keine Partei, die keine Haltelinie hat. Und wenn beispielsweise Frau [Renate] Künast immer wieder formuliert, die Ablehnung der Atomkraft stehe in der Gründungsurkunde der Grünen, dann müssen wir doch die Frage beantworten, was in unserer Gründungsurkunde steht. Und da steht nun mal: Keine weitere Privatisierung! Kein weiterer Personalabbau! Und nach meiner Überzeugung auch kein weiterer Beschäftigungsabbau!

    Natürlich gibt es jetzt ein Problem, das bereits angesprochen worden ist, nämlich das Problem der Schuldenbremse. Wenn man die Schuldenbremse als Bedingung akzeptiert, dann hat man fast keine Möglichkeit mehr, als auch Personalabbau zu akzeptieren. Kein Problem, denn die Schuldenbremse ist doch zu einer Zeit verabschiedet worden, als sie noch nicht gelernt hatten, welche Rezepte allein und ausschließlich geeignet waren, die Weltwirtschaft vor dem Zusammenbruch zu retten. Ihr habt das vielleicht alle noch in Erinnerung: Nur ein verschwindender Teil der Linken hat den Keynesianismus in Deutschland noch verteidigt – nämlich die Aussage, daß dann, wenn die Wirtschaft runtersaust, die Notenbanken mit Geld dagegenhalten müssen und die Staaten mit Fiskalpolitik. Und als jetzt die große Krise da war, ist dies von den Neoliberalen so diffamierte Konzept das einzige gewesen, das den Zusammenbruch der Weltwirtschaft verhindert hat. Darauf können wir stolz sein. Das zeigt aber auch, daß die Schuldenbremse ein Konzept von vorvorgestern ist und in die heutige Zeit überhaupt nicht mehr paßt.

    Demokratischer Sozialismus

    Wenn wir dieses Grundsatzprogramm und unsere Verortung formulieren, und wenn wir den Begriff Demokratischer Sozialismus immer wieder bemühen, dann müssen wir auch vielen Menschen sagen: Was ist demokratischer Sozialismus? Wenn man mal mit Lektoren zu tun hat, wenn man irgend etwas schreibt, dann heißt eine Grundregel: Fremdwörter raus! Und es ist nun einmal so, wenn zu viele Fremdwörter in einem Text sind, dann ist er nicht sehr volkstümlich – um das einmal zu sagen. Ich würde am Schluß raten, den Text auch einmal daraufhin zu überprüfen, ob man nicht einige Fremdwörter ersetzen kann durch verständliche Formulierungen. Und das gilt dann selbstverständlich auch für die Erklärungsnotwendigkeit des Demokratischen Sozialismus, weil ja das Wort Sozialismus oft mißbraucht worden ist in der Geschichte. Darüber dürfen wir uns ja nicht hinwegtäuschen. Und deshalb müssen wir es übersetzen, und deshalb sage ich, eine der besten Formulierungen stammt von Rosa Luxemburg, und die heißt nun einmal: Demokratischer Sozialismus ist eine Gesellschaft ohne Ausbeutung und ohne Unterdrückung. Eine solche Gesellschaft wollen wir. Die gibt es heute noch nicht, aber wir wollen sie. Und wenn der Begriff der Ausbeutung fällt, liebe Freundinnen und Freunde, dann muß das nicht nur auf die Arbeitswelt bezogen sein, dann muß das auch auf die Natur bezogen sein. Man darf die Natur nicht in dem Sinne ausbeuten, daß man die Lebensgrundlagen endgültig zerstört. Die ökologische Frage, und das sage ich noch einmal, ist für uns eine Systemfrage. Wir binden sie an die Eigentumsfrage, und deshalb sind wir überzeugt, nur unser Gesellschaftsentwurf eröffnet überhaupt Wege, um die ökologische Frage in den Gesellschaften dieser Welt zu lösen.

    Es gibt eine andere Formulierung, was Demokratischen Sozialismus angeht, und die will ich hier nicht vorenthalten. Sie stammt von einem evangelischen Theologen. Er sagte einmal: Demokratischer Sozialismus ist eine Widerstandsbewegung gegen die Zerstörung der Liebe in der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Es wäre doch gar nicht schlecht, wenn das Wort Liebe zumindest einmal in einem Grundsatzprogramm irgendeiner Partei auftaucht, liebe Freundinnen und Freunde, so verkehrt wäre das doch nicht!

    Was gehört wem?

    Nun ist natürlich unser Programm fokussiert auf eine Frage, das ist die Eigentumsfrage. Und diese Eigentumsfrage, liebe Freundinnen und Freunde, ist die Grundfrage der Bewegung. Und wenn man sich mit der Eigentumsfrage auseinandersetzt, dann muß man sich auch mit der Vergangenheit auseinandersetzen. Wenn beispielsweise immer wieder gesagt wird, wir sollten uns mit den Erfahrungen im Realsozialismus auseinandersetzen, dann ist das genau hier die Stelle. Die Eigentumsfrage ist auch die Auseinandersetzung mit dem Realsozialismus insoweit, als man sagen kann: Eine Verstaatlichung der Wirtschaft löst im Grunde keine Probleme, weder die demokratische Frage noch die ökologische Frage noch eine andere Frage.

    Deshalb muß man die Grundsatzfrage aufwerfen, was gehört aus welchen Gründen wem? Diese Frage ist in keiner Verfassung beantwortet. Sie reden alle vom Eigentum, aber nirgendwo ist definiert, was eigentlich Eigentum ist. Da kann man anknüpfen an die liberale Gesellschaftstheorie, in der am Anfang klar die Aussage stand, Eigentum entsteht durch Arbeit. Ich lade dazu ein, daß wir, Die Linke, daß wir die erste Partei sind, die hier in Deutschland klar sagt: Jawohl, Eigentum entsteht durch Arbeit und nicht durch Nichtstun oder Einheirat oder Erbschaft, oder was weiß ich auch immer. Eigentum entsteht insbesondere in den großen Produktionsbetrieben durch Arbeit. Das ist die Grundlage unseres Ansatzes über die Eigentumsfrage. Und deshalb geht es nicht darum, daß wir irgendjemanden enteignen wollen. Lothar [Bisky] hat das schon angesprochen, Gesine [Lötzsch] hat es angesprochen, Klaus [Ernst] hat es angesprochen, wir wollen die permanente Enteignung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer rückgängig machen. Das ist unser Programm, liebe Freundinnen und Freunde. Wir wollen sie eben nicht mehr weiter verwirklichen.

    Feudalismus in den Betrieben

    Deshalb war meine Bitte, ich äußere sie wieder, daß man Brechts Gedicht »Fragen eines lesenden Arbeiters« auf die erste Seite des Programms schreibt. Denn dort ist die Frage aufgeworfen: »Wer baute das siebentorige Theben? In den Büchern stehen die Namen von Königen. Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt?« fragt er provozierend. Die Leute glauben heute immer noch, die Piëchs oder die Quandts oder die Klattens hätten die Felsbrocken herbeigeschleppt. Sie waren das aber nicht, liebe Freundinnen und Freunde. Es waren zig Tausende Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die die Felsbrocken herbeigeschleppt haben und die daher ein Anrecht darauf haben, ihr Eigentum geltend zu machen. Diese Frage war übrigens eine Frage, die breit in allen Parteien nach dem Kriege diskutiert worden ist. Wenn ich beispielsweise jetzt so formulieren würde: Wir müssen den Feudalismus in der Wirtschaft überwinden, dann ist das eine Formulierung, wie sie beispielsweise ein Christdemokrat namens Karl Arnold direkt nach dem Kriege gemacht hat. Jawohl, es ist so, der Feudalismus ist nicht überwunden, er ist nur eingekehrt in die Großbetriebe, wo man eben den Zehnten abverlangt, ich sage das jetzt einmal etwas simpel. Und diesen Feudalismus in der Wirtschaft, den wollen wir auch überwinden. Das ist der Kern unseres Bemühens als Partei Die Linke.

    Weiter Druck machen

    An dieser Alleinstellung müssen wir weiter arbeiten. Und an dieser Alleinstellung werden wir irgendwann auch gemessen werden. Und diesen Gedanken zu popularisieren, das ist gar nicht so einfach, weil viele Menschen sich einfach daran gewöhnt haben zu glauben, daß die Eigentumsordnung, wie wir sie derzeit haben, daß die gottgegeben sei und daß sie überhaupt nicht zu verändern ist. Aber die Frage, die man immer wieder aufwerfen muß, ist ganz simpel: Was gehört wem aus welchen Gründen? Und ich habe schon öfter darauf hingewiesen, daß im Bürgerlichen Gesetzbuch steht: Wenn jemand aus mehreren Materialien, Glas, Eisen, Holz, Kunststoff, etwas zusammensetzt, dann gehört nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch dieser neue Gegenstand demjenigen, der ihn zusammengesetzt und geschaffen hat. Würden wir diese Formulierung des Bürgerlichen Gesetzbuchs ernst nehmen, müßten wir unsere Wirtschaftsordnung von Grund auf reformieren, um das einmal klar zu sagen. Bitte verweist auf diesen Paragraphen des Bürgerlichen Gesetzbuchs. Eigentumsordnung ist die Kernfrage, die Grundfrage der Bewegung. Sie entscheidet letztlich auch darüber, ob wir eine demokratische, eine soziale und eine ökologische Gesellschaft überhaupt aufbauen können. Und wir können auch stolz darauf sein, daß wir die Politik der anderen Parteien zumindest teilweise verändert haben, und wir müssen immer wieder neue Anläufe machen. Wer hätte denn geglaubt vor einiger Zeit, daß heute mehr oder weniger das linke Parteienspektrum für den gesetzlichen Mindestlohn eintritt, einschließlich der Gewerkschaften, die, als wir anfingen bei der vorletzten Bundestagswahl, da noch alle mehr oder weniger dagegen waren. Wir haben an dieser Stelle die Gesellschaft verändert, und wir müssen das weiter tun, liebe Freundinnen und Freunde.

    Für politischen Streik

    Und wenn wir dafür plädieren, auch den politischen Streik zur Grundlage der gesellschaftlichen Auseinandersetzung zu machen, dann fordern wir nichts anderes als gesellschaftliche Normalität. Weil es ein Fehler war hier in Deutschland von allen Beteiligten, unter Protest nur zu verstehen, daß man sich versammelt, eine Rede hält, dann gehen alle Bier trinken und anschließend nach Hause. So zerstört man die Protestkultur in Deutschland. Wir brauchen die Erfahrung, daß Proteste auch etwas in Bewegung setzen, und da können wir von den europäischen Nachbarn lernen. Deshalb sind wir stolz darauf, daß wir dieses Thema gesetzt haben.

    Wenn heute der Vorsitzende von ver.di dieses Thema aufnimmt und bejaht, dann ist das doch ein Erfolg. Oder wenn es vor einiger Zeit die IG Bau beschlossen hat, obwohl die Gewerkschaftsführungen in einer falschen Tradition in Deutschland immer ablehnend sind, dann ist das doch ein Erfolg! Wir wollen, daß wir demokratische Zustände bekommen, und Demokratie heißt nun einmal, eine Gesellschaft zu bauen, in der sich die Interessen der Mehrheit durchsetzen. Noch sind wir – siehe Hartz IV, Agenda 2010, Steuergesetzgebung – eine Gesellschaft, in der sich Interessen der Minderheit durchsetzen: Niedriglohnsektor über 20 Prozent! Wir wollen aber eine Gesellschaft, in der sich die Interessen der Mehrheit durchsetzen, und ein Instrument dafür ist der politische Streik.

    Konsequent gegen Krieg

    Nun komme ich zu dem Thema der Außenpolitik, wobei ich nicht glaube, daß wir da große Differenzen haben. Ich glaube, wir müssen doch, und das haben einige gesagt, ausgehen von dem, was wir in den letzten Jahren erfahren haben. Und selbst wenn die eine oder andere wirklich der Meinung war, daß die sogenannten militärischen Interventionen zum Frieden beitragen würden. Dann ist spätestens nach Afghanistan, nach dem Irak-Krieg klar, daß solche Interventionen viel Schlimmeres bewirken, daß sie zum Tod Tausender, ja Hunderttausender unschuldiger Menschen führen und daß wir da niemals Ja sagen werden zu solchen Interventionen. Natürlich müssen wir konsequent bleiben und jetzt nicht sofort das Ende jeder Bewaffnung und jedes Militärs ausrufen. Daß das ein Wunsch ist, ist völlig klar. Wenn wir uns aber einbinden wollen in die Sicherheitspolitik der Staatengemeinschaft, dann ist die Formulierung, die wir bereits beschlossen haben, ernst zu nehmen: Wir wollen die Umwandlung der NATO in ein kollektives Sicherheitssystem. Jawohl, wir wollen das. Das können wir aber nur innerhalb des internationalen sicherheitspolitischen Dialogs. Wenn wir Abrüstung und degressive Verteidigung durchsetzen wollen, dann können wir das nicht, wenn wir uns aus dem Dialog ausschalten. Wir müssen in diesem Dialog bleiben. Das heißt kollektives Sicherheitssystem, liebe Freundinnen und Freunde.

    In diesem Zusammenhang, weil ja das Stichwort der »humanitären Intervention« schon so viele Menschen verführt, meine ich, daß es gut wäre, wenn wir insbesondere im Hinblick auf die Partei der Grünen ein Gegenkonzept entwickeln. Und dieses Gegenkonzept ist schon öfter genannt worden, es stammt aus den 60er Jahren. Es steht jetzt im Europäischen Vertrag, man höre und staune, im Paragraphen 214, daß die europäischen Staaten ein Korps aufstellen sollen, das bei Katastrophen, Krankheiten, Seuchen usw. Hilfe leistet. Jawohl, wir sollten da vorangehen, wir sollten ein solches Korps aufstellen. Das ist wirkliche humanitäre Intervention, liebe Freundinnen und Freunde. Denn eines ist doch wieder klar geworden, und das ist das Hauptargument gegen all diejenigen, auch die in SPD und Grünen, die befürworten, militärisch zu intervenieren. Man muß es immer wieder wiederholen. Wenn man sieht, daß zwei Billionen nach Schätzungen von [Wirtschaftswissenschaflter Joseph] Stiglitz aufgewandt worden sind, zwei Billionen Dollar für den Irak-Krieg, dann muß man irgendwann mal ins Träumen kommen, was es bedeuten würde, wenn man so viel Geld aufwenden würde, um Hunger und Seuchen der Welt zu bekämpfen. Welch eine Veränderung der Welt. Und deshalb müssen wir dabei bleiben, solange der Satz gilt, daß man mit viel, viel weniger Geld ungleich mehr Menschenleben retten kann, solange der Satz gilt, daß man mit viel, viel weniger Geld zwei Millionen Kinder vor dem jährlichen Hungertod bewahren kann, solange ist die Begründung, wir brauchen militärische Intervention, um Menschenleben zu retten, unglaubwürdig und niemals akzeptabel, liebe Freundinnen und Freunde!

    Vertrauen aufbauen

    Wenn die Frage aufgeworfen wird, wie man gute Wahlergebnisse erreichen kann, dann gibt es eine ganz entscheidende Antwort. Die Antwort lautet: Man muß Vertrauen aufbauen. Und dieses Vertrauen ist verdammt schwer zu erwerben. Und gerade die Wählerinnen und Wähler der Linken sind besonders empfindlich, wenn es darum geht, ob Vertrauen eingebracht worden ist, und ob dieses Vertrauen auch gerechtfertigt war. Denn sie gehören ja gerade zu denen, die so oft enttäuscht, so oft ausgegrenzt worden sind, daß sie kaum noch in der Lage sind, Vertrauen aufzubringen. Und deshalb haben wir wie keine andere Partei die Aufgabe, Vertrauen aufzubauen und glaubwürdig zu sein. Glaubwürdig in unserem praktischen Handeln als politische Partei.

    Liebe Freundinnen und Freunde, wir haben vor einigen Jahren formuliert: Die Linke ist eine demokratische Erneuerungsbewegung. Man müßte weiter formulieren: Die Linke ist eine demokratische, eine soziale und ökologische Erneuerungsbewegung. Und es ist unsere Aufgabe, durch glaubwürdige Politik diesen Prozeß zu ermöglichen, auf den nicht nur Deutschland, sondern die ganze Welt wartet. In diesem Sinne, schönen Dank für Eure Aufmerksamkeit.



    Von Oskar Lafontaine